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Mittwoch, 30. Juli 2025

Sibylle Ulsamer: Von Caspar Nehers Assistentin zur weltweiten Kostüm-Karriere

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Sibylle Ulsamer war gerade Anfang 20, als ihr Caspar Neher, der berühmte Augsburger Bühnenbildner und enger Weggefährte Bertolt Brechts, einen bislang unbekannten Bühnenbildentwurf zur Inszenierung von Verdis „Falstaff“ in Frankfurt am Main 1961 schenkte. Und eine Bühnenbildner-Weisheit: „Wenn es stimmt, gibt’s keinen Applaus“, sagte Neher einmal zu ihr. „Wenn es dekorativ ist, klatschen die Leute.“ Für Ulsamer, heute 86, wurde dieser Satz zum Leitfaden ihres Schaffens.

Als junge Volontärin von der Werkschule in Köln arbeitete sie im Theater unter Intendant Oscar Fritz Schuh. Liselotte Erler, Ulsamers damalige Chefin und selbst Kostümbildnerin mit engen Kontakten zur Szene, kannte Neher gut – so kam es, dass Ulsamer Neher persönlich nach Brügge begleitete. An diesen Besuch erinnert sich Ulsamer noch Jahrzehnte später mit leuchtenden Augen – und an die Delfter Kachel, die sie sich damals als Erinnerung kaufte.

Caspar Neher schenkte ihr den Bühnenbildentwurf

Warum Neher ihr den Entwurf schenkte? „Er hatte ihn übrig, und ich war ihm sympathisch. Vielleicht auch, weil ich ja zu ihm gesagt habe, ich will zu ihm nach Wien, nach einem Jahr noch. Und dann hat er das aus der Mappe gezogen und hat gesagt: „Magst du das? So als Souvenir quasi? Ja, aus Freundlichkeit. So wie ich auch meine ganzen Figurinen, die guten, verschenke.“ Ulsamer übergab den Entwurf Jahrzehnte später der Stadt Augsburg. „Ich habe ihn heiß geliebt und immer mitgezogen – von München nach Italien und wieder zurück“, sagt sie heute. In Augsburg hat sie noch drei Cousinen, zur Verwandtschaft zählt auch Videokünstlerin Stephanie Sixt. Über diese kam sie in Kontakt mit Prof. Jürgen Hillesheim, Leiter der Brecht-Forschungsstätte Augsburg, der in der FAZ einen ganzen Artikel zu Beteiligten am „Falstaff“ veröffentlichte, die „alle durch ihre Rolle in der NS-Zeit diskreditiert waren“, wie er schreibt.

Bühnenbildentwurf von Caspar Neher zum „Falstaff“ in Frankfurt am Main 1961.

Doch darum soll es hier nur am Rande gehen, ist Ulsamer doch die einzige noch lebende Zeitzeugin, die Neher persönlich gekannt hatte. Im Herbst 1962 begleitete sie Neher und seine Frau sogar noch auf das Oktoberfest. Obwohl Neher starb, bevor es Ulsamer zu ihm zum Studium an die Akademie der bildenden Künste nach Wien schaffte, hatte er großen Einfluss auf ihre Art zu arbeiten, sagt sie. In der Zusammenarbeit mit ihm lernte sie, wie sich Entwürfe von Figurinen auf echte Kostüme übertragen lassen. Sie erinnert sich an ein gemeinsames Projekt, bei dem sie aus einem fest gewebten grauen Rosshaar-Stoff, sonst im Kostüminneren verwendet, Außenkleider schufen und darauf mit Kreide zeichneten – ganz in Nehers Stil, der auf grauem Aquarellpapier mit Deckweiß zeichnete.

Für „Madame Butterfly“ in Rom verwendete sie Kimonos aus den 30er-Jahren. Sie ist nicht traurig, in der heutigen Zeit keine Kostümbildnerin mehr zu sein: „weil es an sich sehr trist in der Zwischenzeit geworden ist. Möglichst nackt oder in amerikanischer Uniform“.

Sie behielt ihn, der auch mal unangenehm sein konnte, positiv in Erinnerung: „Er hatte so einen köstlichen Humor. Ja, fand ich jedenfalls in der Erinnerung. Also ich habe nie Angst gehabt vor ihm.“ Aber Caspar Neher war ihr kein Türöffner im klassischen Sinn. „Ich war blutjung und bedeutungslos“, winkt Ulsamer nüchtern ab. Aber: Sie hatte gearbeitet. Viel, hart und leidenschaftlich. „Ich habe mindestens zehn Jahre meines Lebens unbezahlt gearbeitet – um zu lernen“, erzählt sie.

Zwar schwärmt sie immer noch von der Offenheit und der Maxime „Leben und leben lassen“ der Rheinländer und von ihrer Lehrstelle in einem Luxus-Modeatelier auf der Düsseldorfer Kö. Doch sie machte Karriere in der ganzen Welt: Etwa an der Bayerischen Staatsoper, bei den Salzburger Festspielen – und in Italien, das für sie zur zweiten Heimat wurde, obwohl sie bis dahin noch nicht mal richtig Italienisch sprach. Leitete die Kostümabteilung der Römer Oper und der Arena di Verona. Sie war etwa Direktrice der Kostümabteilung des Piccolo Teatro in Mailand. Mit Luciano Damiani verband sie nicht nur die Liebe zum Theater: „Hier in Deutschland sagt man, dass Damiani der größte Bühnenbildner des 20. Jahrhunderts war und ich hatte das Glück, mit ihm 40 Jahre zu arbeiten. Und die ersten 17 Jahre waren wir liiert.“

Ulsamer erinnert sich an eine besonders spektakuläre Inszenierung in Parma: In „Orfeo ed Euridice“ ließ Regisseur Damiani die Figur „Amore“ – von einer Sopranistin gesungen – an einem Seil über das Publikum hinweg zum Kronleuchter fliegen. Das Korsett für diesen Flug? Hat Ulsamer genäht.

Ulsamers Emmy steht heute im Regal in München

Ihre Arbeiten reichten von Opernklassikern wie „La Traviata“ in Verona bis zu aufwendigen Fernsehproduktionen, etwa einer Serie über Peter den Großen, für die sie zwischen Moskau, Sibirien und Italien pendelte – mit 16-Stunden-Tagen und einem Emmy Award für das Kostümdesign als Lohn. Neben ihrer Arbeit auf den Bühnen der Welt hat Ulsamer auch unterrichtet, in Kursen in Emilia-Romagna und Kampanien, wo sie ihr Wissen an junge Generationen weitergab. Dass sie allgemein in Italien auf ein Team aus tollen Frauen zählen konnte, hebt sie besonders hervor. „Mit denen konnte man Pferde stehlen“, sagt sie. Ihre Arbeit war nicht nur künstlerisch anspruchsvoll – sie war auch zutiefst menschlich geprägt.

Einen massiven Silberarmreif, den Sibylle Ulsamer selbst gefertigt hat.
Ein Silber-Armreif, den sie selbst gefertigt hat.

In ihrer Wohnung in München sieht man eine weitere Leidenschaft Ulsamers: In den USA, wo sie ihre Schwester besuchte, probierte sie aus Langeweile einen Silberschmiedekurs aus – und schloss fünf Jahre später mit einem “Master of Fine Arts” in Silberschmiedekunst und Schmuckdesign ab. Geblieben sind etwa ein Armreif und eine Teekanne.

In München wuchs Ulsamer auf, bis ihr Vater Julius 1951 berufsbedingt umzog und die Familie mitnahm. Ihre Mutter legte den Grundstein für die Liebe zu den Brettern, die die Welt bedeuten – nahm sie als Kind mit in Theater und die Oper.

Seit zehn Jahren lebt Sibylle Ulsamer aus gesundheitlichen Gründen wieder in München. Die Zeit in Italien liegt hinter ihr – ebenso wie ein bewegtes, reiches Leben im Dienst der Theaterkunst. Vieles gibt sie in würdige Hände: Bücher, Bühnenentwürfe, Kunst. Doch das Wichtigste trägt sie weiter in sich: eine Vorstellung davon, was Theater kann, wenn es „stimmt“ – und nicht nur dekorativ ist.

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