Jörg Stuttmann ist ein Fan des Greifbaren. In seiner Wohnung im Schloss Aystetten reihen sich Andenken an Freunde, Verwandte, an vergangene Arbeiten, etwa als Kalligraph. Der passionierte Legobauer baut ganze Anwesen aus den kleinen Steinchen. Im kunstvoll gestalteten Bad: eine übergroße Figur des „Doc Croc“ aus der Zeichentrickserie „Simsala Grimm“ – neben Eric Cartman aus „South Park“ seine bekannteste Rolle als Synchronsprecher.
Der Geschichtenerzähler – Künstler, Schauspieler, Synchronsprecher und Radiomensch – ist seit 35 Jahren auch ein Sammler von Geschichten, Anekdoten und Spuren, die Augsburgs Vergangenheit lebendig machen. Er bevorzuge „Privatgelehrter“, sagt Stuttmann und lacht. „Das hat so etwas leicht Staubiges.“ Das hat er mit seiner Figur Doc Croc gemeinsam. Auf dem Küchentisch: seine Chronik von Siller & Laar samt Stadtgeschichte. Gleich hinter der Haustür erstreckt sich sein Archiv: Neben Büchern über 500 Ordner, in Regalen, die den gesamten Gang links und rechts flankieren. Fein säuberlich beschriftet und lexikalisch geordnet: Augsburger Persönlichkeiten aus mehreren Jahrhunderten bekommen so ein Gesicht, eine Geschichte. Oder wussten Sie, dass Philippine Welsers Hochzeit geheim bleiben musste und ihr die leiblichen Kinder als Findelkinder vor die Tür gelegt wurden, weil niemand wissen durfte, dass sie von ihr waren?
Seine Geschichten erzählt er in seiner eigenen Youtube-Reihe
Angefangen hat alles bei Radio Kö: Zehn Jahre lang war Stuttmann dort als „Kulturonkel“ zu hören. „Ich habe täglich drei Minuten Stadtgeschichte erzählt – zum Beispiel, warum eine Straße so heißt.“ Als die Reihe endete, blieb das Material. Er wollte es nutzen, um Geschichte Menschen zu vermitteln, denen Uni-Bücher zu trocken sind.
Seit mehr als drei Jahren erzählt er seine Geschichten in der YouTube-Reihe „Augsburg-Geschichten von Jörg Stuttmann“. 187 Folgen sind es bis Ende Oktober. Warum Video statt Podcast? „Weil ich zeigen und auch belegen kann, was ich habe – Briefe, Fotos, Stadtpläne. Ein Podcast kann das nicht.“ Und wenn der Fokus mal verrutscht, stört ihn das nicht. „Perfektion ist nicht das Ziel.“ 2150 Menschen folgen ihm mittlerweile – ein South Park-Fan besuchte ihn sogar mal in Augsburg.
Menschen, die ihm Schätze in seinem Archiv “anvertrauen“ möchten, wie er sagt, können ihn am liebsten telefonisch oder per Brief kontaktieren. Das Archiv: analog. Erstens habe er lieber Papier in der Hand, als etwas online zu suchen, zweitens sei es weniger anfällig.
Während Hündin Klara ihm auf Schritt und Tritt folgt, zieht er Band um Band aus dem Regal, weiß dank seines Systems mit Querverweisen genau, wer wo steht. Zu seinen Lieblingsfolgen gehören die über Marie-Louise Larisch-Wallersee, der Augsburger Nichte von Kaiserin Sisi, die eine zentrale Rolle beim Suizid von Kronprinz Rudolf und seiner Geliebten Mary Vetsera spielte. Oder die Geschichte des Weltreisenden Ludwig Keller (1802–1892), der im Orient und am Nordkap war und dessen Freunde lustige Gedichte über seine Reisen schrieben: „Alle Leute waren dick eingemummelt und hatten Pelzkappen auf. Nur einer stand mit Zylinder dort. Das war Ludwig Keller“, erzählt Stuttmann und lacht. Besonders stolz ist er auf das „Einladungsbuch“ von Ludwig Sander. Er deutet auf eine vergilbte Seite mit schwer entzifferbaren Zeilen: „Von 1825 bis 1853 sind alle Gäste und Speisen aufgelistet. Das ist ein absolutes Who is who. Das ist ein absoluter Schatz.“ Was man auch liest: Die Musiker streikten, weil sie zu wenig Geld bekamen.
Der 66-Jährige findet seine Geschichten überall: „Was mir besonders viel Spaß gemacht hat von meinen Folgen: Die Nachfahren von Wilhelm Jacob Schweiker hatten keine Kinder. Sie sind wegen meiner Augsburg-Geschichten auf mich zugekommen.“
Hunderte Stunden Arbeit steckt Jörg Stuttmann in sein Archiv
Er verbringt jedes Jahr über 800 Stunden im Archiv, liest, ordnet, dokumentiert. „Je mehr man weiß, desto mehr weiß man, was man nicht weiß“, sagt er, während er liebevoll über eine vergilbte Mappe streicht.
Seine Leidenschaft wurzelt in der eigenen Familiengeschichte. Schon mit 16 begann er zu forschen. „Goethes Urgroßeltern sind meine direkten Vorfahren“, sagt er. Und die Malerdynastie Morgenstern. „Ich kann ja für Herrn Goethe nun gar nichts. Aber wenn ich in Frankfurt war oder in Weimar, stellte ich mir vor, wenn uns jetzt die Generationen nicht trennen würden, würde ich beim Onkel anklopfen.“ Er hat Verwandte bis in Kairo und Mexiko. Seine heißgeliebte Tante Julie Stöhr legte eigentlich den Grundstein für seine Archivtätigkeit. Ihr widmete er ein Video. Im Gang verweist ein kunstvoll gestalteter Stammbaum auf die Verwandten, von denen er der erste gebürtige Augsburger war. Stuttmann sagt: „Ich bin selbst schon ein Stück Augsburger Geschichte.“ Er hat miterlebt, wie sich die Stadt verändert hat.
Im Archiv finden sich auch Gegenstände: „Man weiß nie, aus welchen Mosaiksteinchen sich am Ende ein Bild ergibt.“ Deswegen hebt Stuttmann alles auf, was ihm anvertraut wurde – und unterstreicht es mit dem Rilke-Zitat „Nichts ist mir zu klein, und ich lieb es trotzdem und mal es auf Goldgrund und groß und halte es hoch, und ich weiß nicht wem löst es die Seele los.“
Finanziell lohnt sich das Archiv kaum. „In den letzten drei Jahren sind vielleicht 200 Euro zusammengekommen“, sagt er. „Ohne die Hilfe von Freunden hätte ich vieles gar nicht geschafft.“ Trotzdem macht Stuttmann weiter. „Es klingt theatralisch, aber: Es ist zur Lebensaufgabe geworden.“ Denn: „Erstens gibt es so etwas in der Art nicht“, sagt er. „Und ich bin der festen Überzeugung, in 100 Jahren wird dieses Archiv noch einiges spannender sein, als es heute ist.“
Jörg Stuttmann Schloss
86482 Aystetten
Tel.: 0821/48 97 53
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