„Es fährt ein Zug nach nirgendwo“, schmachtete Schlagersänger Christian Anders schon 1972 ins Mikrofon – ein Platz-1-Hit damals. Nicht so lange, aber gefühlt eine kleine Ewigkeit, stehen auf einem Bahngleis irgendwo unweit der Haunstetter Straße Dutzende von leeren Güterwaggons. Schmucke Einfamilienhäuser mit gepflegten Gärten, hier und da eine Villa – und dann diese Güterwaggons mit ihrer Patina aus Flugrost und Graffitis – als seien sie vor langer Zeit hier vergessen worden.

„Lost Place“, „vergessene Orte“ werden Plätze wie alte Stollen, verlassene Gewerbehallen, baufällige Häuser genannt, über die es ganze Bücher gibt. Und die vor allem auf junge Leute eine Faszination ausüben. Solch eine Anziehungskraft entwickeln seit einiger Zeit jene Eisenbahnwaggons, die unweit der Haunstetter Straße zwischen den Wohnhäusern und dem Siebentischwald auf ihren Einsatz warten. Wie nicht selten bei mutmaßlichen Lost Places ist aber auch hier nichts vergessen oder ungenutzt. Die Waggons seien dort vorübergehend abgestellt, erklärt Helmuth Schmitt, einer der Geschäftsführer der Augsburger Localbahn. Abgestellt so lange, bis sie vom Eigentümer wieder gebraucht und angefordert werden. Um die Waggons jederzeit betriebsbereit zu halten, würden sie, so Schmitt, dann und wann überprüft, an eine Diesellok angehängt, hin- und hergefahren. Wie überall bei Bahnanlagen sei auch hier selbstverständlich, dass diese von Unbefugten nicht betreten werden dürfen. Dort Party zu machen, Müll liegenzulassen, gegebenenfalls auf den Waggons herumzuklettern, sei verboten. Und im Falle des Herumkletterns wegen der Gefahr, abzustürzen – für Menschen nicht ungefährlich.

Zwischen dem Siebentischwald und der Wohnbebauung an der Haunstetter Straße stehen auf einem wenig benutzten Localbahn-Gleis „geparkte“ Güterwaggons – beispielsweise aus Helsingborg in Schweden.

Das Problem hinter dem Problem: Europaweit, so Schmitt, wurden und werden immer wieder Gleise herausgerissen, die kaum oder nicht mehr benutzt werden. Entsprechend schwinde jener Platz, beispielsweise in Rangierbahnhöfen, auf dem vorübergehend nicht benötigte Waggons geparkt werden können. Solche wenig oder nicht benutzten Gleise hat die Augsburger Localbahn in ihrem Netz. Beispielsweise nahe der Haustetter Straße.

Auf dem ganzen Kontinent unterwegs

Vor allem konjunkturbedingt sinke bei den Gütertransportfirmen in Europa derzeit die Nachfrage nach Transportleistungen. Entsprechend würden weniger Güterwaggons benötigt. Der Markt sehe inzwischen so aus, dass einige große Unternehmen in Europa tätig seien, die zum Teil mehrere zehntausend Waggons besäßen. Diese würden je nach Nachfrage selbst benutzt oder vermietet.

Oder auch nicht. Und dann würden von den Eigentümern entsprechend Abstellmöglichkeiten gesucht. Solche biete beispielsweise die Augsburger Localbahn. Je nach der Planung würden die Waggons direkt auf dem Betriebsgelände an der Friedbergerstraße bereitstehen oder auf einem der Localbahn-Bahnhöfe. Oder eben wie der Zug am Siebentischwald. Das dortige Gleis sei nicht das einzige, wo die Localbahn Waggons in die Warteschleife abstellen könne. Es gebe weitere Anlagen, die ebenfalls genutzt würden.

Direkte Beschwerden über die Zustände an derart geparkten Waggons seien bislang nicht zu ihm vorgedrungen, so Schmitt. Man wisse aus der Erfahrung von der Verlockung, die Zugwaggons beispielsweise auf Sprayer ausübten. Vom Gefühl zu wissen, dass sein Graffiti auf dem ganzen Kontinent unterwegs sei. Was es nicht ist, wenn es auf einem monatelang abgestellten Waggon prangt. Von daher, so Schmitt, erfreuten sich erfahrungsgemäß die ständig genutzten Passagierwagen einer größeren Beliebtheit bei Sprayern. Diese Waggons würden meist sofort wieder gereinigt. Anders die Güterwaggons, wenn sie teils wochenlang auf ihren nächsten Einsatz warteten. Fast keiner sei darunter, so Schmitt, der nicht eine „Verzierung“ tragen würde. Allerdings würden sich die Eigentümer nicht groß über die nahezu unvermeidliche Dekoration sorgen.

„Die Zeit verrinnt, die Stunden gehen, bald bricht ein neuer Tag heran.“ So sang es Christian Anders, der diesen Zug aber wohl nicht meinte.

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