„Wir begannen mit Stücken über die Ursachen von Migration, beleuchteten später die schwierige Lage von Flüchtlingen und zeigen heute die Folgen für alle Beteiligten. Dabei möchten wir Verständnis sowohl unter den Migrierenden als auch beim Publikum fördern“, erklärt Ferdi Değirmencioğlu und betont, dass alle Darstellenden ihre Sprache, Ausdruckskraft und ihr Selbstbewusstsein entwickeln. Viele fanden durch die Theaterarbeit den Mut, sich beruflich und persönlich neu zu orientieren.
2010 wurde das Projekt vom Kulturbüro der Stadt Augsburg und dem Staatstheater als VHS-Kurs gegründet und finanziert, um Mitbürger mit Migrationsgeschichte mehr kulturelle Teilhabe zu ermöglichen. Seit Anbeginn leitet Regisseur, Theaterpädagoge und Übersetzer Değirmencioğlu die Schauspielworkshops und öffentlichen Aufführungen. Dieses Theater funktioniert trotz Vollzeitjobs und Familienalltag der Teilnehmenden, verkauft alle Aufführungen aus und verändert Leben.
Das sagen langjährige Mitstreiter bei theater.interkultur
Sita Suchocka-Mohr (41), Grundschullehrerin und zweifache Mutter, gebürtige Polin, in Indien aufgewachsen: „Ich habe mich mit 16 ins Theaterspiel verliebt. In Deutschland habe ich mich dem theater.interkultur angeschlossen, obwohl ich am Anfang nur die Hälfte von dem Gesagten verstanden habe“, offenbart die Schauspielerin.
„Vor 15 Jahren war ich daheim mit kleinen Kindern, heute bin ich Grundschullehrerin. Die sehr intensiven Endproben und Aufführungen, die immer zum Schuljahresende stattfinden, kosten mich einiges an Kraft. Aber ich finde, dass dieses Projekt einen tollen Ausgleich zu meinem Job bietet und mich wirklich erfüllt. Die Kompetenzen aus dem Schauspieltraining kann ich als Lehrerin sehr gut gebrauchen, außerdem inszeniere ich mit meiner Klasse jedes Jahr ein Theaterstück, was für die Schüler jedes Mal ein wertvolles Erlebnis ist.“
Mehtap Çelik (51), Bundesbeamtin: „Meine Liebe zum Theater begann schon in der Grundschule mit dem ‚Kasperle‘. Als Kind einer Gastarbeiterfamilie rieten mir meine Eltern, einen bodenständigen Beruf zu erlernen. Trotzdem absolvierte ich 2003 die Schauspielschule in München. Heute spiele ich parallel zu meinem Job nebenbei Theater. Beides zusammen ist crazy, aber ich würde mich wieder dafür entscheiden.“
Çelik erklärt ihre Beweggründe: „Die Lebenswirklichkeit vieler Menschen in Deutschland ist von Migration geprägt. Im Theater bleibt dieses Thema oft unsichtbar, doch es bringt große Potenziale für Vielfalt und Relevanz. Junge Talente mit Migrationserfahrung werden bislang zu selten sichtbar, wodurch das Publikum an Vielseitigkeit verliert. Die freie Theaterszene bietet Räume, Interkulturalität sichtbar zu machen und neue Perspektiven zu öffnen. Durch die Perspektivwechsel gewinnen Künstlerinnen und Künstler neue Impulse für Kommunikation und Bühnenverständnis. Barrieren lassen sich abbauen, was Chancen für kreative Akteurinnen und Akteure schafft. So wird die Lebensweltvielfalt erfahrbar: Menschen entdecken ihre Fähigkeiten neu, und Gesellschaften entwickeln eine offene, neugierige Grundhaltung.“
Marc Schestak (40), Lehrer: „Nach dem Referendariat fand ich 2010 im theater.interkultur meinen kreativen Ausgleich. Die intensive Arbeit bei Ferdi begeistert mich jedes Jahr aufs Neue. Die positive, oft begeisterte Resonanz hat mich dazu bewogen, mit Mitte Dreißig nochmal eine private Schauspielschule zu besuchen, obwohl ich feststellte, dass ich nicht hauptberuflich als Schauspieler arbeiten möchte, aber auch, dass ich mein Leben lang spielen werde. In unserer Gruppe definiert sich niemand über seine Herkunft. Natürlich ist sie ein Teil von jedem, aber Identitäten sind nicht in Stein gemeißelt, sie bewegen sich in einem Fluss.“
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